Sehr geehrte Frau Wodicka,
vielen Dank fuer ihre Mail. Mal abgesehen davon, dass ich nie geglaubt habe, ein Wahlergebnis von 23 Prozent innerhalb weniger Wochen in Umfragen wieder in schwindelnde Hoehen zu bekommen, frage ich mich, welches Verstaendnis Sie von einer Partei haben. Ist es wirklich Ihre Vorstellung, dass ein Parteivorsitzender so mir nichts dir nichts vor Ort den oertlichen Verantwortungstragern sagt, was sie zu tun oder zu lassen haben? Und wenn er das tut, mit welchem Recht eigentlich? Nach dem Motto: Alles Gute kommt von oben'? Meiner Vorstellung von einer demokratischen Partei entspricht das jedenfalls nicht. Ich gehoere weder dem Goslarer noch dem Langelsheimer Stadtrat an. Die Stadt Goslar liegt nicht mal in meinem Wahlkreis als Bundestagsabgeordneter. Und ich beziehe meine Informationen ueber die Goslarer und die Langelsheimer Stadtpolitik im wesentlichen aus der Zeitung - und dass auch nur, wenn ich am Wochenende zuhause bin. Nun habe ich zu manchem, was ich in der Zeitung lese, auch eine eigene Meinung. Und die sage ich den Verantwortlichen vor Ort auch. Aber wie stellen Sie sich eigentlich demokratische Willensbildung in einer Partei vor? Per Befehl von oben und gehorsam unten? Nur so koennte Ihre Idee einer Einmischung durch mich ja funktionieren. Durch Entmuendigung der Verantwortlichen vor Ort. Meiner Vorstellung von Demokratie und Politik entspricht das ganz und garnicht.
Demokratische Willensbildung ist harte Arbeit. Ein muehseliger Prozess oft genug. Und dabei gibt es keine 'objektiv richtigen' oder obketiv falschen' Entscheidungen. Sondern es gibt den Austausch von Argumenten und am Ende Wahlen. Diese Entscheidungen durch Wahlen garantieren auch nicht 'objektiv richtig' oder 'objektiv falsch', sondern sie verleihen Gestaltungsmacht an eine jeweilige Mehrheit auf Zeit. Nicht mehr und nicht weniger. Und natuerlich gibt es das Risiko, dass dabei Fehlentscheidungen getroffen werden. Das Risiko haben uebrigens auch Buergerinitiativen! Auch sie koennen - gemessen am Gemeinwohl - Entscheidungen treffen, die sich als nicht richtig herausstellen. Ihr Vorteil ist: sie muessen sich keiner allgemeinen Wahl stellen und sie koennen sich auf ein Interesse konzentrieren. Parteien und Parlamente muessen viele Interessen gegeneinander abwägen.
Diese Abwägung mag im einzelnen so ausgehen, dass Sie als Vertreterin einer Buergerinitiative die Entscheidung fuer falsch halten. Das muss aber nicht heissen, dass die Entscheidung unbegruendet oder nur taktischer natur ist.
Was mich inzwischen immer mehr wundert, ist die Selbstverstaendlichkeit, mit der Buergerinitiativen alle Entscheidungen, die nicht ihren Interessen entsprechen, quasi als illegitim, taktisch oder falsch bezeichnen. In Wahrheit kommen Parteien in der Abwägung unterschiedlicher Interessen nur zu einer anderen Gewichtung der Argumente. Man muss sich nicht einigen! Aber der gegenseitige Respekt vor einander und der Redlichkeit der Motive muss dabei erhalten bleiben.
All dies muessen Menschen in einer Demokratie vor Ort austragen. Nicht durch Vorgaben eines Parteivorsitzenden. Und am Ende entscheiden die Buerger bei Wahlen.
Das alles klingt fuer Sie vielleicht etwas abstrakt, aber es aus meiner Sicht die richtige Antwort auf Ihren Brief. Demokratische Politik besteht nicht aus Befehl und Gehorsam. Auch dann nicht, wenn der Vorsitzende einer Partei zufaellig am Ort einer Buergerinitiative wohnt.
Mit allen guten Wuenschen fuer das neue Jahr verbleibe ich
Ihr Sigmar Gabriel